Die Energiewende stellt die Frage nach dem Design des Strommarktes neu. Denn der 1998 im Zuge der Energiemarktliberalisierung geschaffene Strommarkt handelt ausschließlich Strommengen – er wird daher oft auch als Energy-only-Markt bezeichnet. Unbestritten ist, dass der Energy-only-Markt dafür sorgt, dass jeweils die günstigsten Kraftwerke zum Einsatz kommen, um eine gegebene Stromnachfrage zu befriedigen. Umstritten ist jedoch, ob der bestehende Strommarkt ausreichend Investitionssignale erzeugt – und zwar sowohl für neue konventionelle Kraftwerke als auch für neue Erneuerbare-Energien-Anlagen wie Windkraftwerke oder Photovoltaikanlagen.
Um die Versorgungssicherheit auch in den wenigen Stunden der Höchstlast zu gewährleisten, müssen immer genügend Kapazitäten vorhanden sein. Das können steuerbare Erneuerbare Energien, fossile Backup-Kapazitäten, Stromspeicher und auch verschiebbare Lasten sein. Es gibt eine intensive Diskussion in der Wirtschaftswissenschaft, ob die bestehenden Energy-only-Märkte grundsätzlich in der Lage sind, Versorgungssicherheit zu gewährleisten – das heißt ob in Energy-only-Märkten immer genügend Kraftwerke vorgehalten werden, um auch eine Spitzenlast-Stromnachfrage zu decken. In vielen Staaten mit liberalisierten Märkten (wie beispielsweise an der Ostküste der USA, in Brasilien, Spanien, Großbritannien, Russland oder Südkorea) haben die Strommarktregulatoren den Schluss gezogen, zusätzliche Instrumente zur Gewährleistung der notwendigen Kraftwerkskapazität einzuführen, zum Beispiel einen Kapazitätsmarkt. Der Grund: Versorgungssicherheit ist ein öffentliches Gut, von dem alle Stromnutzer profitieren. Es besteht jedoch ein hohes Risiko, dass der Energy-only-Markt die Versorgungssicherheit nicht in ausreichendem Umfang gewährleistet.
Die Energiewende verschärft diese Frage: Denn auch bei steigenden Anteilen von Erneuerbaren Energien wird man eine ähnlich große Anzahl von fossilen Kraftwerken wie heute benötigen, um in wind- und sonnenarmen Zeiten (zum Beispiel bei Windflaute im Winter) den Strombedarf zu bedienen. Viele dieser Kraftwerke werden jedoch nur an wenigen Stunden im Jahr betrieben. Zudem hat die Frage notwendiger Ersatzkapazitäten zur Sicherung der Versorgungssicherheit in Deutschland eine besondere Relevanz, da im Zeitraum von 2015 bis 2022 durch den Atomausstieg Kernkraftwerkskapazitäten in Höhe von zwölf Gigawatt (GW) wegfallen werden, der größte Teil davon (acht GW) innerhalb des kurzen Zeitraums von 2020 bis 2022.
Hinzu kommt die Frage, ob der Energy-only-Markt überhaupt in der Lage ist, Windkraft- und Solaranlagen zu refinanzieren, selbst wenn ihre Vollkosten unter denen von Kohle- oder Gaskraftwerken liegen. Denn das Problem von Windkraft- und Photovoltaikanlagen ist, dass sie sich auf dem auf Grenzkosten basierenden Spotmarkt ihren eigenen Preis kaputt machen. Wenn der Wind weht und die Sonne scheint, produzieren alle Windkraft- und PV-Anlagen in derselben Wetterzone gleichzeitig Strom. Sobald eine gewisse Anzahl von Windkraft- und PV-Anlagen im System ist, hat dies einen Preiseffekt an der Strombörse: Da viel Strom mit Grenzkosten von null angeboten wird, sinkt der Börsenpreis, da nun Kraftwerke mit teureren Grenzkosten nicht zum Einsatz kommen und Kraftwerke mit günstigeren Grenzkosten den Börsenpreis bestimmen (der Merit-Order-Effekt). Wind- und Solaranlagen können sich daher am heutigen Grenzkostenmarkt prinzipiell nicht refinanzieren.
Agora Energiewende geht vor diesem Hintergrund der Frage nach, wie ein Energiewende-Markt aussehen könnte. Aufgabe des neuen Energiewende-Markts muss es sein, gleichzeitig den Einsatz der bestehenden Kraftwerke effizient zu steuern sowie Anreize zu schaffen für die notwendigen Investitionen zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit und des Ausbaus der Erneuerbaren Energien entsprechend der Energiewende-Ziele.